Mein behinderter Bruder [1]

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01 BotschaftIch habe von meinen Eltern zwei Dinge geerbt: Einen ganzen Haufen Geld und Markus, meinen um 18 Jahre älteren, behinderten Bruder. Markus ist inzwischen 35 Jahre alt, groß und stark wie ein Bär und hat den Verstand eines zweijährigen Kindes. Vor zehn Jahren ist Papa gestorben, voriges Jahr ist ihm Mama nachgefolgt. Im Testament stand: Solange wir gelebt haben, haben wir für deinen Bruder gesorgt. Jetzt übergeben wir ihn in deinen Händen.

Gib auf ihn acht und triff du alle Entscheidungen für ihn, die er nicht treffen kann. Wir haben gespart und Geld angelegt: Für sein finanzielles Auskommen ist gesorgt, du musst dir keine Sorgen machen. Alles GuteIch hatte schon mit so was gerechnet. Bis Mama gestorben ist, hat sie sich liebevoll um Markus gekümmert: Das war eine 24-Stunden Job voll Arbeit und Hinwendung. Nun war ich an der Reihe. Nur ich konnte und wollte nicht 24 Stunden am Tag für den Rest meines Lebens Pflegerin und Betreuerin meines behinderten Bruders sein und dabei Zusehen, wie das Leben mit seinen Chancen und Herausforderungen an mir vorbeirinnt.

So machte ich mich auf die Suche nach einem guten Heimplatz. Nach langem Suchen hatte ich wirklich einen gefunden: Ein neues, modernes Behindertenheim: Sonnig, hell, freundlich, modernst ausgestattet, mit einer engagierten und liebevollen Betreuungscrew. Natürlich war das Ganze sauteuer – aber dank den finanziellen Rücklagen durch die Eltern und meines eigenen, sehr guten Gehaltes ging es sich aus. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als ich Markus im Heim ablieferte.

Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und das Gefühl, dass Mama mich vom Himmel aus verärgert und erbost anschaute. Aber das Gefühl legte sich mit der Zeit und mein Bruder versank in der Vergessenheit. Ein, -zweimal im Monat besuchte ich ihn. Er war meistens in Beschäftigungstherapie, freute sich riesig, wenn ich kam und schaute mir traurig aus seinen braunen Rehaugen nach, wenn ich ging. Es hatte sich eingependelt. Ich war zufrieden.

Bis gestern. Da lag in meinen Postfach ein Brief mit dem kunstvollaufgedruckten Absender des Heimes. Ich stockte. Ich hatte die monatlichen Rechnungen über einen Überweisungsauftrag regelmäßig pünktlich bezahlt, was wollten die also von mir? Noch im Vorzimmer meiner Wohnung riss ich hastig den Umschlag auf. Sehr geehrte Frau Dörfer, bla, bla, bla, setzten Sie sich bitte mit meiner Sekretärin, Frau Reutter in Verbindung, um einen Gesprächstermin auszumachen. Mit freundlichen Grüße, Dr.

Hartwig Münster, Heimleiter. Das verhieß nichts Gutes. Hoffentlich hatte Markus nichts angestellt und machte keine Schwierigkeiten. Ich war gerade dabei, mich frisch zu verlieben und beruflich und karrieremäßig verlief auch alles nach Plan. Das letzte was ich jetzt brauchen konnte, waren irgendwelche Wickel und Schwierigkeiten, die mir mein Bruder bereitete. Ich spürte, wie in mir der Ärger und die Angst hoch stieg, obwohl ich noch gar nicht wusste, um was genau es eigentlich da ging.

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Ich hatte eine unruhige Nacht. Gleich am nächsten Vormittag rief ich dort an. Professionell und freundlich meldete sich nach dem ersten Läuten Frau Reutter, anscheinend die rechte Hand des Chefs. Sie konnte oder wollte mir nicht sagen, um was es genau ging. Wir vereinbarten einen Termin für nächsten Donnerstag, 18:30. Das passte mir gut, es war nicht mehr lang dahin und außerdem musste ich im Job nicht frei nehmen.

Am Donnerstag um 18:25 war ich vor der Tür der Heimleitung. Ich wusste, dass in der Zwischenzeit, seit ich Markus ins Heim gegeben hatte, die Heimleitung sich verändert hatte. Ich war gespannt, was mich nun erwarten würde. Frau Reutter begrüßte mich freundlich, kündigte mich via Haustelephon an und ließ mich pünktlich in die heiligen Gemächer des Chefs eintreten. Herr Münster war ca. 1. 80 groß, schlank, braungebrannt, erfolgreich, der erfolgsverwöhnte und smarte Managertyp.

Es gibt keine Probleme, es gibt nur Lösungen, und die beste Lösung habe immer ich, schien sein innerstes Lebensmotto zu sein. Galant und zuvorkommend geleitete er mich zu seiner edlen Sitzgarnitur aus Leder und begann sofort das Gespräch. – Frau Dörfer, Sie haben sich sicher gewundert, dass wir mit der Bitte um einen Gesprächstermin an sie herangetreten sind. Der Kerl gefiel mir, er kam gleich zur Sache und redete nicht um den heißen Brei herum.

Ich nickte und wartete gespannt, wie es weiterging. – Es geht um ihren Bruder Markus. So etwas hatte ich mir schon gedacht, worum sollte es sonst gehen. – Er entwickelt sich in unserem Heim prächtig und scheint sich auch sehr wohlzufühlen?Dr. Münster schaute mich dabei fragend an. Ich nickte nur. Deshalb hatte er mich sicher nicht zu sich gebeten. – Wir alle sind mit ihm sehr zufrieden,. jetzt kam einelängere Pause, wenn da nicht dieses spezielle Verhalten von ihm wäre.

Jetzt waren wir soweit. Gleich würde ich wissen, woran ich war. Aber Dr. Münster drehte noch einmal eine verbale Einführungsrunde. – Wir sind ein modernes, aufgeschlossenes Heim, dass wirklich versucht, alle Wünsche unserer Heiminsassen zu befriedigen. Nur gibt es einfach in der öffentlichen Meinung gewissen Tabus und Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen. Jetzt wurde ich wirklich neugierig. Worauf wollte Dr. Münster letztendlich hinaus. -In letzter Zeit häufen sich sexuelle Übergriffe ihres Bruders.

Er belästigt nicht nur andere Heimbewohnerinnen, sondern auch das Personal und seine Betreuerinnen. So, jetzt war es heraußen. Markus, der geile Bock! Er hatte einen modernen Heimplatz, Swimming Pool, Physio -und Ergotherapeuten, Animation und Kreative Tätigkeiten, aber das alles war ihm scheinbar zuwenig. – Letzte Woche ist es dann zum ersten Mal zu einem Übergriff in der Öffentlichkeit gekommen. Der Heimleiter schaute mir bei dieser Meldung ins Gesicht wie ein Pastor, der die Verwerflichkeit dieses Tuns von der Kanzel herunter betonen wollte.

– Die Mitglieder seiner Wohngemeinschaft waren auf einen Ausflug im Stadtpark unterwegs. Die Betreuer hörten ein Mädchen schreien. Ihr Bruder belästigte gerade hinter einer Parkbank eine ca. 8 jähriges Kind!- Frau Dörfer, wir können uns dieses Verhalten als Heim auf Dauer nicht bieten lassen. Er legte eine Pause ein, lehnte sich in seinem Sessel zurück und drückte die gespreizten Finger seiner Hände aneinander. – Natürlich haben wir alles mögliche versucht. Es gab unzählige Teamsitzungen der Betreuerlinnen zu diesem Thema.

Es hat aber anscheinend nichts gefruchtet. -Letzte Woche haben wir nun unser Anstaltspsychologin beigezogen. Sie kennt die Problematik allgemein. Im Ausland gibt es vereinzelt Heime, die sich regelmäßig der Dienste von Prostituierten bedienen, um diesen Lebensbereich abzudecken. Dies ist bei uns nicht möglich. Weit hatte ich es gebracht. Mir schwante übles. Das ganze verbale Vorspiel diente sicher nur dazu, Markus aus dem Heim zu entlassen. Was würde ich dann tun? Wohin mit meinem Lover und meiner Karriere, mit diesem Bruder an meiner Seite.

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. – Frau Dr. Werner, unsere Psychologin, meinte nun, dass es möglich ist, dass Markus so ein großer Verlangen nach Kontakt und sexueller Berührung hat, da er auf Grund seiner geistigen Behinderung die zielgerichtete Handlung der Auto-Erotik noch nicht kennt. Ich starrte Dr. Münster verständnislos an. Was um alles in der Welt waren “die zielgerichteten Handlungen der Auto-Erotik?“Er nahm mein Unverständnis war und erklärte sich näher.

– Unter Auto-Erotik versteht die Psychologie jede Form der erotischen Selbststimulation, also die Selbstbefriedigung. Ach so, wieso nicht gleich. Auf gut Deutsch, Markus wusste nicht, was es heißt, sich zu wichsen. – Dr. Werner meinte nun, dass vielleicht insoweit Hoffnung bestehe, dass wenn Markus erfährt, dass es möglich ist, sich selber zu befriedigen, die sexuellen Übergriffe aufhören. Genau, da hatten wir die Lösung. Markus konnte in seinem Zimmer onanieren, sooft er wollte, und ich konnte mein bisheriges Leben weiterführen.

Brilliante Lösung!- Die Schwierigkeit besteht nun darin, ihrem Bruder diesen Lebensbereich zu erschließen. Auf Grund der inneren Einstellung und auf Grund der staatlichen Gesetzgebung ist es natürlich all unseren Betreuerinnen und Betreuern strengstens untersagt, in irgendeiner Form von sexuellen Kontakt zu unseren Heiminsassen zu treten. Meine Hoffnungen fielen wie ein einstürzendes Kartenhaus zusammen. Eine längere Pause trat ein. Dann setzte Dr. Münster bedächtig und vorsichtig fort. Er bewegte sich wie ein Spaziergänger auf der dünnen Eisfläche eines soeben zugefrorenen Teiches.

– Frau Dörfer, ich kenne ihre persönliche Situation aus den Akten. Für sie wäre es eine wesentliche Einschränkung ihrer Lebensqualität, wenn sie Markus zu sich Heim nehmen müssten. Der gute Mann sagte mir nichts Neues. Mir wurde am ganzen Körper heiß und kalt, wenn ich nur daran dachte. – Ich habe mir gedacht, dass es vielleicht ihnen möglich wäre, mit ihrem Bruder zu diesem Themenbereich zu reden. Vielleicht gelingt es ihnen als Schwester, Markus zu beruhigen.

Ich starrte ihn verständnislos an. Dr. Münster setzte in seinen Ausführungen gleich fort. – Die Wohngemeinschaft, in der Markus sich befindet, ist heute Abend im Zirkus. Markus ist alleine daheim. Alle Betreuerinnen und Betreuer sind unterwegs. Vielleicht sollten sie die Gelegenheit nutzen, um mit ihrem Bruder zu reden. – Es wäre schade, wenn wir wegen dieser sexuellen Übergriffe Markus aus unserem schönen Heim entlassen müssten. Dr. Münster erhob sich. Die Besprechung war beendet.

Ich hatte einmal ein Buch gelesen mit dem Titel: Des Teufels Alternative. So kam ich mir jetzt vor. Ich hatte zwei Möglichkeiten:1) Ich unternahm nichts – dann würde ich meinen Bruder heim bekommen. 2) Ich redete mit ihm – er würde natürlich absolut nur Bahnhof verstehen und genau gleich weitermachen, wie bisher. Zurück zu Punkt 1. Wie in Trance erhob ich mich und verabschiedete mich. Dr. Münster schüttelte mir kurz die Hand.

– Ich wünsche Ihnen alles Gute für ihr Bemühen. Vielleicht gelingt ihnen als Schwester, was uns als professionelle Betreuer versagt geblieben ist. Anfang.


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Kommentare

Dauersteher 21. Mai 2017 um 13:24

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